Blaue Veilchen statt rote Rosen
Wenn in der Partnerschaft aus Liebe schmerzhafte Hiebe werden
Der Jahrgang 10 der Sekundarschule Pr. Oldendorf nahm in den letzten Wochen an einer durchaus emotionalen, aber wichtigen Präventionseinheit zum Thema „häusliche Gewalt“ teil. Hierzu kamen die Schulsozialarbeiter*innen Janin Gilbert und Thorsten Klötzel an mehreren Terminen in die Klassen, um das Thema mit den jungen Heranwachsenden entsprechend zu erörtern, einen Ausstellungsbesuch in der „Rosenstr. 76“ und auch den Kontakt der Klasse zu Irina Heinrichs, einer Frau, die ihre Mutter, die bei einem Femizid getötet wurde, vorzubereiten.
Hierzu gehörte nicht nur die Erarbeitung der verschiedener Gewaltformen, die im Rahmen (ex-)partnerschaftlicher Gewalt häufig ausgeübt werden, sondern auch die Frage nach wirkungsvollen Schutzmöglichkeiten und Trennungsbarrieren.
Gewalt ist, wenn eine Person geschlagen wird. So dachten zumindest viele vor Beginn der Präventions- und Aufklärungsveranstaltungen. Dass jedoch neben der körperlichen Gewalt auch die Formen der psychischen Gewalt, sexualisierten Gewalt, sozialen Gewalt, ökonomischen Gewalt und medialen Gewalt ebenfalls verletzend sind, sorgte für großes Erstaunen. Dass laut einer offiziellen Zahl des BMFSFJ jede 3. Frau körperliche o. sexualisierte Gewalt erlebt – überraschte. Dass alle zwei bis drei Tage in Deutschland eine Frau durch ihren (Ex-)Partner bei einem Femizid getötet wird – erschütterte.
Nach den erschreckenden Zahlen und Fakten war dann auch allen Jungen klar, was sie mit dem Thema zu tun haben.
Auf der Spurensuche in der „Rosenstr. 76“, einer nachgestellten Wohnung mit mehr oder weniger deutlich versteckten Hinweisen zu häuslicher Gewalt, entdeckten die Klassen verschiedene Anzeichen und Andeutungen der innerfamiliären Gewalttaten, die in der Beispielfamilie vorgekommen sind. Im anschließenden Auswertungsgespräch wurden vom extra geschulten Fachpersonal noch einmal mögliche Trennungsbarrieren wie z.B. die „Erwartungen an die traditionelle Frauenrolle“ oder auch soziale und ökonomische Abhängigkeiten angesprochen und erläutert, aber auch typische Entschuldigungen des Täters auf den Prüfstand gestellt. Im offenen Dialog äußerte die 16jährige Tanja klar und unmissverständlich, „Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es für Gewalt niemals eine Entschuldigung gibt, auch nicht nach Alkohol- oder Drogenkonsum!“.
In einer anschließenden Einheit traf die Klasse auf Irina Heinrichs. Sie ist die Tochter eines zum damaligen Zeitpunkt bereits getrenntlebenden Ehe und Elternpaares und auch die Tochter, die der Klasse davon berichtet, dass ihr Vater ihre Mutter vor 5 Jahren auf offener Straße erschossen hat – mitten in Pr. Oldendorf. „Femizide“, so Fr. Heinrichs, „finden nicht nur in Großstädten oder weit weg von uns statt, sondern leider auch viel zu oft und nahezu täglich in unserer direkten Umgebung.“ Während sie über die Tat berichtete und darüber, dass sie viele Situationen, die sie jetzt als deutliche Anzeichen und Warnzeichen von Gewalt einschätzt, in ihrer Kindheit als normal eingestuft hatte, kam es in der Klasse zu einer bedeutungsschweren Stille. Nicht sensationslüsternd, sondern mit tiefer Betroffenheit und hohem Respekt stellten die Jugendlichen ihr Fragen zu den Auswirkungen auf ihr Leben, auf ihr jetziges Verhältnis zu ihrem Vater, die Reaktion von Freund*innen und natürlich auch auf die Reaktionen aus dem erweiterten Familienkreis. „Ich habe mich entschlossen“, äußerte Irina Heinrichs klar, „euch von diesem Tiefpunkt meiner ganz persönlichen Familiengeschichte zu berichten, um euch den Mut zu machen, euch frühzeitig aus toxischen und prekären Situationen zu lösen und, und das ist immens wichtig, um euch deutlich zu machen, dass ihr nichts erleiden müsst und jederzeit das Recht habt, euch Hilfe zu holen!“
„Ziel der Präventionsveranstaltung ist es nicht“, so Schulsozialarbeiterin Janin Gilbert, „den Mädchen Angst vor Jungen und Männern zu machen, sondern allen die Augen zu öffnen. Wir wünschen uns, dass die Jungen diese Schule mit einem so klaren Selbstbild verlassen, dass sie niemals zu Tätern werden.“ Ihr Kollege Thorsten Klötzel ergänzt das mit der Aussage, „Der unserer Meinung nach beste Schutz vor Gewalt sind nicht Pfefferspray und Selbstbehauptungskurse für Mädchen, sondern aufgeklärte Jugendliche, die gewaltfreie Werte und Konfliktlösungsmöglichkeiten tief in ihrer DNA und ihrem Werteverständnis verankert haben.“
Abschließend wurde natürlich nicht verschwiegen, dass auch Männer zu Opfern häuslicher Gewalt werden können. Da der Anteil der betroffenen Frauen bei ca. 85 % liegt, lag die Hauptkonzentration jedoch auf der entsprechenden Betrachtungsweise.
Text: Thorsten Klötzel